October 10, 2023

Schlittenfahrten und Change Agents

Jens Poggenpohl
Redaktion und Kommunikation
Im Programm „Gesellschaftlicher Zusammenhalt" nehmen zwei neue Lehre-Projekte ihre Arbeit auf. Sie widmen sich beide dem Umgang mit Vielfalt. Zu den Schauplätzen zählt unter anderem eine Kirche.

Die evangelische Kirche in Kurzrickenbach, einem Ortsteil von Kreuzlingen, hat in den vergangenen Jahren schon einiges erlebt: Hier wurde ein Café installiert, hier gab es Ausstellungen, hier wurde sogar getanzt. Aber ein Seminarraum? Diese Nutzungsform wird eine Premiere sein, wenn das Projekt OPEN PLACE in diesen Tagen erstmals Architektur-Studierende der HTWG Konstanz in Kurzrickenbach zu Gast sind. Ziel ist es, Gestaltungsideen zu entwickeln, die die diakonische und soziale Arbeit vor Ort unterstützen und dabei zugleich den Charakter des Gotteshauses wahren.

Das Vorhaben ist eines von zwei neuen Lehre-Projekten, die der Wissenschaftsverbund Vierländerregion im Rahmen des Programms Gesellschaftlicher Zusammenhalt fördert. Vier Projekte laufen bereits und decken ein breites thematisches Spektrum ab: Es reicht von der Erforschung des Brauchtums als mögliches Vorbild des Community Engagements bis hin zu Unterstützungsangeboten für Studierende, die sich als Lehrkräfte für geflüchtete Menschen engagieren.

Ko-kreativ im Kirchenraum mit prekär lebenden Menschen

Das Projekt OPEN PLACE steht dabei mustergültig für den ko-kreativen Ansatz, den viele der Projekte verfolgen. So werden an den Seminarsitzungen in der Kirche nicht nur Mitarbeitende, sondern auch Teilnehmende des Open Place dabei sein – prekär lebende und arbeitende Menschen. „Wir begeben uns nicht in eine Bobbahn, sondern auf eine Schlittenfahrt“: So beschreibt Myriam Gautschi, Architekturprofessorin an der HTWG Konstanz, den experimentellen Ansatz. Es handele sich auch um keinen „Umbau“, betont sie. „Diese Kirche ist ein emotionaler Speicher, im dem bereits viele Schichten eingelagert sind. Wir schreiben eine neue Schicht ein.“ Pfarrer Damian Brot, der das Projekt gemeinsam mit Gautschi leitet und den Open Place initiiert hat, hofft, „dass vielleicht schon im nächsten Frühjahr, passend zum zehnjährigen Jubiläum, „der Raum anders aussieht.“ Weil die Sitzbänke der Kirche nicht denkmalgeschützt sind, sei dafür „viel Spielraum“ gegeben.

Theologisch flankiert wird das Projekt durch die Universität Zürich, wo unter anderem Christoph Sigrist lehrt, hauptberuflich Pfarrer am Grossmünster Zürich und ebenfalls ein Kirchenmann, der für unkonventionelle Brückenschläge bekannt ist. Nicht umsonst bezeichnete die NZZ ihn als „Gottes Verstärker“. Der Besuch des Grossmünsters, wo Künstler wie Augusto Giacometti und Sigmar Polke Spuren hinterlassen haben, rundet ein Seminar ab, das womöglich bei allen Beteiligten noch lange nachhallen wird.


Myriam Gautschi, Architekturprofessorin an der HTWG Konstanz und Projektleiterin des Projektes Open Place, zusammen mit Damian Brot, Pfarrer der Evangelischen Kirchgemeinde Kreuzlingen und Seelsorger im Open Place.


Unterrichtsplanung vielfältiger denken

Eine gänzlich andere Facette des Umgangs mit Vielfalt bearbeitet das Projekt InterADAPT. Sein Ausgangspunkt ist die wachsende Heterogenität, auch in Schulen. Adapativität wird mehr und mehr zur Schlüsselkompetenz von Pädagog:innen, und zwar nicht erst in der spontanen Reaktion im Klassenraum, sondern bereits in der Planung des Unterrichts. Systematisch gelehrt wird sie in der Ausbildung bislang jedoch noch nicht.

Hier setzt das Projekt an, das angehenden Lehrkräften Tools und Methoden an die Hand geben will, um der Heterogenität gruppenspezifisch oder individuell zu begegnen.

Dazu sei es zuvor jedoch nötig, die eigenen subjektiven Schulerfahrungen zu reflektieren, betont Projektleiter Thomas Rey von der PH St.Gallen. „Gerade weil sich unsere Gesellschaft wandelt und wir als Lehrpersonen Change Agents sein müssen, kann es nicht sein, dass wir Schule künftig genauso gestalten, wie wir sie selbst erlebt haben.“  

Verständnis für Unterschiede

Diese Erfahrungen seien zumeist geprägt von einem lehrpersonenzentrierten Frontalunterricht und der damit verbundenen Orientierung an einem Durchschnittsschüler. Demgegenüber gelte es, zunächst überhaupt ein Verständnis für Unterschiede zu wecken und gleichzeitig dafür, welche dieser Unterschiede im Hinblick auf den lernwirksamen Unterricht auch einen Unterschied machen. Der vergleichende Blick auf den Umgang z. B. von Unternehmen mit Vielfalt soll dafür sensibilisieren.

Vor seinem Wechsel nach St.Gallen hat Rey das Seminarkonzept in Bamberg bereits erfolgreich erprobt. Die Einbettung in den Wissenschaftsverbund bietet nun die Chance eines internationalen Vergleichs. Gemeinsam mit seinem Kollegen Valentin Unger von der PH St.Gallen und Axinja Hachfeld, Juniorprofessorin an der Universität Konstanz, will Rey dabei vor allem erkunden, wie sich die unterschiedlichen Ausbildungskonzepte auf die adaptive Planungskompetenz auswirken. Spätestens 2025 will man es genauer wissen.

Dr. Thomas Rey, Bereichsleiter für Forschung & Entwicklung sowie für Weiterbildung und Dienstleistungen an der PH St. Gallen und Projektleiter von InterADAPT.


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