August 25, 2022

Wie geht Wir?

Jens Poggenpohl
Redaktion und Kommunikation
Nicht erst die Corona-Pandemie hat gezeigt: Die gesellschaftliche Polarisierung nimmt zu, und die Toleranz schwindet. Um die Herausforderungen der Zukunft zu meistern, braucht es wieder mehr sozialen Zusammenhalt. In seinen Projekten erkundet der Wissenschaftsverbund die Experimentier- und Lernräume dafür.

Das Wir-Gefühl steckt in einer Krise: Dieses Gefühl dürfte in den vergangenen zwei Jahren viele von uns beschlichen haben. Manchmal reichten die Grenzen der Gemeinschaft notgedrungen kaum über den engsten Familienkreis hinaus. Oft nur an die Grenzen der eigenen Meinungsblase. Oder an die Grenzen der Nation, wenn es um die Verteilung von Masken oder Impfstoff ging.

Dass der soziale Zusammenhalt schwindet, ist eine viel gehörte Klage dieser Tage. Neu ist sie nicht. Die Pandemie-Krise hat nur grell ausgeleuchtet, dass etwas ins Rutschen geraten ist — sowohl im Umgang zwischen gesellschaftlichen Gruppen als auch im Hinblick auf das politische System. Regelmässig erklären in Umfragen zwischen 20 und 50 Prozent der Bevölkerung, der Demokratie nicht oder nur eingeschränkt zu vertrauen.

Ob man deshalb schon von einer Spaltung der Gesellschaft sprechen muss und wie tief die Beziehungskrise zwischen Bürger*innen und politischen Eliten ist, darüber mag man streiten. Unstrittig erscheint dagegen, dass das Miteinander als Ressource wieder neu entdeckt werden muss. Der Wissenschaftsverbund hat daher die Förderung des sozialen Zusammenhalts zu einem Schwerpunkt der kommenden Jahre erklärt.

Eine der Grundtugenden dafür liegt in der Fähigkeit, Mehrdeutigkeit und unterschiedliche Positionen auszuhalten. Gerade diese Ambiguitätstoleranz ist aktuell einem besonderen Stresstest ausgesetzt, wie der Soziologe Fabian Rebitzer von der FH Vorarlberg mit Blick auf die Akzeptanz bzw. Nicht-Akzeptanz der Corona-Massnahmen oder den Diskussionen um eine Impflicht erläutert.

„Wie selten zuvor ist eine Mehrheit der Bevölkerung auf eine Minderheit angewiesen, da deren Verhalten plötzlich die eigene Freiheit und den eigenen Handlungsspielraum betrifft.“ Und gerade die gesellschaftlichen Kreise, die sich selbst gerne Toleranz unterstellen, müssten sich eingestehen, dass dies leichter gesagt als gelebt ist.
Willkommen in der VUCA-Welt

So extrem und speziell die Erfahrung einer Gesundheitskrise auch sein mag: Sie erinnert nachdrücklich daran, dass es in dieser Welt Krisen gibt, die ein Mehr an Zusammenhalt erfordern als es derzeit der Fall ist. Man denke nur an die vielfältigen Herausforderungen und Zumutungen, die mit dem Klimawandel verbunden sind. Womöglich enthüllt das Grossexperiment der Pandemie daher nur, dass wir uns in Richtung einer Realität bewegen, die man bislang eher aus Managerseminaren kannte: der VUCA-Welt. Die Abkürzung steht für Volatility, Uncertainty, Complexity and Ambuiguity und diente ursprünglich dem US-amerikanischen Militär zur Beschreibung der unübersichtlichen Weltordnung nach dem Kalten Krieg.

Der Begriff beschreibt aber verblüffend genau den Alltag der jüngeren Vergangenheit. Denn was wäre volatiler als das Auf und Ab der pandemischen Wellen, unsicherer als die künftigen Mutationen des Virus, komplexer als die Effekte auf alle Teilbereiche der Gesellschaft und mehrdeutiger als die damit verbundenen Abwägungsfragen? Für jeden Einzelnen bedeutet dies eine Herausforderung, zuweilen auch eine Überforderung, wie Rebitzer festhält. „Wenn man in dieser Situation nicht das Gefühl hat, sein Leben unter Kontrolle zu haben und wirkmächtig zu sein, entsteht daraus leicht Angst und daraus wiederum der Drang, Verantwortliche zu finden.“

Ein „Mangel an Debattenkultur“

Das eigentliche Hauptproblem sieht Rebitzer indes im immer ausgeprägteren Hang, „Menschen in Schubladen zu stecken“. Von einem „Mangel an demokratischer Debattenkultur“ spricht auch Markus Lux, Bereichsleiter Demokratie und Einwanderungsgesellschaft bei der Robert Bosch Stiftung. „Wir müssen wieder lernen, mit anderen Meinungen umzugehen — da haben alle gesellschaftlichen Gruppen Nachholbedarf.“

Der zum Teil erzwungene Rückzug ins ganz eng gefasste Wir hat dieses Defizit verstärkt. Wenn Volksfeste oder Stadionbesuche ausbleiben, entfallen nun einmal auch spontane Begegnungen mit anderen Positionen. Allerdings war die Pandemie auch diesbezüglich nur ein Katalysator. Individualisierung, Fragmentierung und Tribalisierung sind die bekannten Stichworte der Entwicklung, auch die Effekte der sozialen Medien, deren Algorithmen den starken negativen Affekten und der schnellen Pointe den Vorzug vor Austausch und Zwischentönen geben, sind inzwischen beschrieben.

Zugleich haben die Orte und Institutionen, an denen man Andersdenkende und Fremde traf, an Bedeutung verloren. Vereine, Kirchen und Volksparteien leiden unter schwindenden Mitgliederzahlen, Innenstädte drohen zu veröden, die Lebenswelten von Arm und Reich trennen sich.

Doch ohne die Erfahrung, dass es zwischen unterschiedlichen Menschen und Milieus mehr Verbindendes als Trennendes geben könnte, fällt es jedoch auch zusehends schwerer, Vertrauen zu anderen aufzubauen — und das ist schlussendlich auch für die Demokratie ein Problem. Denn „Vertrauen“, darauf hat der Ökonom und spätere Nobelpreisträger Kenneth Arrow schon 1974 hingewiesen, „ist das wichtigste Schmiermittel eines sozialen Systems.”

Teilhabe als Booster

Falsch wäre indes das Bild einer Negativspirale. Die gesellschaftliche Solidarität ist deutlich ausgeprägter als es die gereizten Debatten in den sozialen Medien suggerieren. Auch die Bereitschaft von Bürger*innen, sich für das Gemeinwohl zu engagieren, ist nach wie vor hoch. Unübersehbar ist schließlich auch, dass die Politik wenigstens auf lokaler Ebene das Potential der Partizipation zu erkennen beginnt. Mitmachportale, Bürgerwerkstätten, Formate der integrierten Stadtentwicklung — immer mehr Kommunen beziehen die Zivilgesellschaft in die Gestaltung von Zukunftsfragen mit ein. Die Bosch Stiftung hat dazu jüngst sogar ein international angelegtes Programm initiiert. Im Projekt „Common Ground“ will die Stiftung die Beteiligung von Bürger*innen in Grenzregionen fördern. „Den europäischen Gedanken stärken wir zuerst im Lokalen“, sagt Markus Lux. „Und wenn die Schnittpunkte Europas gut vernäht sind, hält es besser zusammen.“

Gleichzeitig ist die Bosch Stiftung gemeinsam mit der ERSTE Stiftung, der Europäischen Forum Alpbach Stiftung, der Stiftung Mercator Deutschland und der Stiftung Mercator Schweiz Initiatorin der Initiative Anstoss Demokratie. In dieser sollen grenzübergreifende Impulse zur Stärkung der demokratischen Kultur erprobt werden. Ziel ist die Gründung eines dezentralen Hubs von und für Akteur*innen aus Politik, Zivilgesellschaft, Medien, Wirtschaft und Wissenschaft in der DACH-Region. Auch der Wissenschaftsverbund ist Teil dieser Initiative und entwickelt dabei die Thematik der Ambiguitätstoleranz gemeinsam mit der FH Vorarlberg, der OST — Ostschweizer Fachhochschule sowie der Zeppelin Universität weiter.

Keine Demokratie im Klassenzimmer?

Werden Teilhabeprozesse mit der nötigen Ernsthaftigkeit, Professionalität und Kompromissbereitschaft gestaltet, fungieren sie gerade in Krisensituationen als Booster für den Zusammenhalt, wie das IBH-Projekt Resiliente Gemeinden in der Analyse von fünf Kommunen der Bodenseeregion festgestellt hat. „Partizipative Prozesse schaffen gesellschaftliche und politische Lernräume, die das Sozialkapital einer Gemeinde steigern“, heisst es dazu im Abschlussbericht.

Kein Wunder angesichts solcher Erkenntnisse, dass Expert*innen immer wieder die Rolle des ganz frühen politischen Lernraums betonen: der Schule. Und auf dem Papier liest es sich gut, was den Kultusbehörden der Vierländerregion zum Thema der politischen Teilhabe einfällt. So sind beispielsweise in Vorarlberg Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte von Schüler*innen gesetzlich festgeschrieben, ist in der Ostschweiz Mitgestaltung Teil des Lehrplan 21 und hält der Beschluss der deutschen Kultusministerkonferenz auch für Baden-Württemberg fest: „Die gelebte Demokratie muss ein grundlegendes Qualitätsmerkmal unserer Schulen sein.“

Die Realität im Kassenzimmer jedoch ist ernüchternd, weiss Gudrun Quenzel, Inhaberin des Lehrstuhls für Bildungssoziologie an der PH Vorarlberg. Im Auftrag der IBH hat sie eine trinationale Studie geleitet, die mehr als 3.000 Jugendliche nach ihren Mitbestimmungsmöglichkeiten und -wünschen gefragt hat. Klares Ergebnis:

Am liebsten mitentscheiden würden die Schüler*innen bei der Auswahl von Unterrichtsthemen und der Festlegung der Hausaufgaben — und ausgerechnet hier ist die Kluft zur tatsächlichen Mitsprachemöglichkeit am größten. „Die Lehrer*innen trauen den Jugendlichen zu wenig zu“, glaubt Quenzel, die mit ihrem Team nur eine einzige Schule gefunden hat, die zumindest die punktuelle Selbstgestaltung des Lernens erlaubt.

Aber abgesehen von der Frage des Lernerfolgs: Werden Schüler*innen, die selbstständig lernen, später auch bessere Demokrat*innen? Quenzel ist sich „sehr sicher, weil sie etwas lernen, das Kontrollüberzeugung und Selbstwirksamkeit heißt: Sie können, wenn sie wollen, und sie könne Prozesse steuern und sich Hilfe holen, sie können auch mit Unsicherheit umgehen.“ Dieses „positive Grundbewusstsein“ unterscheide sich signifikant zu dem Opfer-Gefühl, das Quenzel aus Studien zu Rechtsradikalen kennt. „Es rettet nicht die Welt, aber es hilft der Persönlichkeitsentwicklung. Und wenn dann noch politische Bildung hinzukäme, hätten wir schon viel gewonnen.“

Zum Programm Sozialer Zusammenhalt



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