August 25, 2022

Mehr Demokratie im Klassenzimmer

Jens Poggenpohl
Redaktion und Kommunikation
Ausgerechnet bei den Themen, die sie am meisten interessieren, dürfen Schüler*innen nicht mitbestimmen — so das Ergebnis einer IBH-Studie. Dabei wäre die Schule der ideale Ort, um Mitwirkung und Selbstverantwortung zu erfahren.

Schon von Berufs wegen hat Gudrun Quenzel das Ohr am Puls der Jugend. Dreimal war die Bildungssoziologin, die an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg lehrt, bisher Co-Autorin der renommierten deutschen Shell Jugendstudie. Ihr Institut war federführend für die Studie „Lebenswelten 2020“, in der erstmals alle Pädagogischen Hochschulen Österreichs gemeinsam „Werthaltungen junger Menschen“ im Land untersuchten. Jüngst hat sie mit einem Team in einem Projekt der eine besonders prägende Lebenswelt untersucht: die Schule — und wie Jugendliche in ihr Demokratie erleben und erlernen können.

Mehr als 3.000 Schüler*innen in Baden-Württemberg, Vorarlberg und der Ostschweiz haben die Forscher*innen der PH Vorarlberg, der PH St.Gallen und der Zeppelin Universität Friedrichshafen nach ihren Mitbestimmungsmöglichkeiten und -wünschen gefragt, haben sich in der Bodenseeregion auf der Suche nach guten Beispielen gemacht und Interviews mit Lehrkräften geführt. Nun liegt der Kompass Partizipation vor.

Das klare Ergebnis: Zwar bekennen sich die Bildungsbehörden zum Ideal einer „gelebten Demokratie“, zwar gibt es institutionalisierte Gremien der Mitbestimmung und ist „Politische Bildung“ in den Lehrplänen verankert. Doch die Kernzone des schulischen Alltags bleibt ein demokratiefreier Raum. Mitentscheiden würden die Schüler*innen nämlich am liebsten bei der Auswahl von Unterrichtsthemen und der Festlegung der Hausaufgaben — und ausgerechnet hier ist die Kluft zur tatsächlichen Mitsprachemöglichkeit am größten.

Bemerkenswert sind die Ergebnisse sowohl im Hinblick auf die Jugendlichen und das System Schule als auch auf die allgemeinere Debatte rund um Themen der Partizipation und Teilhabe, die die Philosophin Rahel Jaeggi mit den „drei W-Fragen“ der Demokratie charakterisiert: Wer entscheidet? Wie wird entschieden? Und worüber kann überhaupt entschieden werden? Gerade die letzte, seltener thematisierte Frage, ist von einer nicht zu unterschätzenden Bedeutung, wenn von einer „Erosion der Demokratie“ die Rede ist — siehe zum Beispiel die Entscheidungsprozesse und Repräsentationsverhältnisse in der EU. Für den Mikrokosmos Klassenzimmer haben die Schüler*innen den Finger nun in diese Wunde gelegt.

Auch der Hintergrund für das Teilhabedefizit ist aus „erwachsenen“ Debatten vertraut:

„Die Lehrer*innen trauen den Jugendlichen zu wenig zu“, sagt Gudrun Quenzel, die mit ihrem Team nur wenige Schulen gefunden hat, die zumindest die punktuelle Selbstgestaltung des Lernens erlauben. Aber werden Schüler*innen, die selbstständig lernen, später auch bessere Demokraten?

Nach ihren Gesprächen ist sich Quenzel „sehr sicher, weil sie etwas lernen, das Kontrollüberzeugung und Selbstwirksamkeit heißt: Sie können, wenn sie wollen, und sie können Prozesse steuern und sich Hilfe holen, sie können auch mit Unsicherheit umgehen.“

Dieses „positive Grundbewusstsein“ unterscheide sich signifikant zu dem Opfer-Gefühl, das die Forscherin aus Studien zu Rechtsradikalen kennt. „Es rettet nicht die Welt, aber es hilft der Persönlichkeitsentwicklung. Und wenn dann noch politische Bildung hinzukäme, hätten wir schon viel gewonnen.“

Erfahren Sie hier mehr über das Projekt.

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