August 25, 2022

Tanz mit den Systemen

Markus Rhomberg
Geschäftsführung, Gremienbetreuung, Kommunikation und Partnerschaften
Donella Meadows war ihrer Zeit voraus. Vor genau 50 Jahren war sie Mitautorin der “Grenzen des Wachstums”, des ersten Berichts des Club of Rome. Ein neues ökologisches, wirtschaftliches und soziales Gleichgewicht forderten die Autor*innen damals. Meadows Verdienst liegt insbesondere in der Analyse der Zusammenhänge, die hinter den Problemen unserer Welt stehen: Wie komplexe Systeme funktionieren und wie sie sich gegenseitig beeinflussen. Vor allem aber hat sie die Vorstellung demaskiert, dass Systeme kausal funktionieren und man sie kontrollieren könne. Und sie hat daraus einen ganz eigenen Zugang entwickelt, um sie dennoch zu verändern.

Aber was ist ein System überhaupt? Es gibt es überall: in der Natur, in der Gesellschaft, in der Technik. Unser Körper ist ebenso ein System, wie die Organisation, in der wir arbeiten, unsere Familie, unser Sportverein, die Demokratie, in der wir leben oder das Wirtschaftssystem, in dem Güter produziert und versandt werden und dafür monetäre Gegenleistungen erfolgen.

Jedes System verfügt über Elemente, die durch bestimmte Regeln miteinander verknüpft sind und Ziele verfolgen. Über die Zeit produzieren Systeme ihre eigenen Verhaltensmuster. Schauen Sie einfach in Ihre eigene Familie oder das Unternehmen, in dem Sie arbeiten: Suchen Sie nach Elementen, Regeln, Zielen und sich daraus ergebenden Verhaltensmustern! Vergleichen Sie dies mit anderen Familien oder Unternehmen, werden Sie bald erkennen, dass jedes System ein typisches, eigentümliches, Verhalten hat.

So sorgt ein Ökosystem wie das Great Barrier Reef beispielsweise für die dynamische Balance zwischen Pflanzen, Lebewesen und natürlichen Ressourcen innerhalb des Riffs: Sterben Korallen ab, verlieren unzählige Organismen ihre Lebensgrundlage. Unser Bildungssystem hat das Ziel, Menschen beim Erwerb von Wissen und Fähigkeiten zu unterstützen. Einfache Systeme wie Unternehmen oder Familien, sind in der Regel stabil, solange alles nach Plan, Vorschriften oder Gewohnheiten läuft. Wenn aber eingespielte Abläufe sich verändern oder verändert werden, kann es zu Chaos kommen. Ein neuer Chef, ein Kind oder Homeschooling können zu unvorhergesehenen Komplikationen in Unternehmen oder Familie führen, wie wir vermutlich selbst schon erfahren haben. Das gilt auch für größere Systeme: Die Ever Given, die eine Woche lang quer im Suezkanal lag, hat die weltweiten Liefer- und Produktionsketten ziemlich durcheinandergebracht.

Insbesondere bei komplexeren ökologischen oder sozialen Systemen haben Eingriffe fast immer unvorhergesehene Folgen und Nebenwirkungen. Das liegt schlicht daran, dass wir nicht alle Elemente, Regeln und Ziele eines solchen Systems kennen und durch Eingriffe unerwartete Dynamiken erzeugen. Denn vielen Eingriffen liegt eine lineare Sichtweise zugrunde: Wenn ich Stellschraube A verändere, führt das zum gewünschten Ergebnis X. Das steht aber im Widerspruch zu der Art und Weise, wie Systeme und wie diese Welt funktioniert. Donella Meadows bringt es auf den Punkt: “We can’t control a system”. Zudem steht ein System nicht allein, sondern interagiert mit einer Vielzahl anderer. Eingriffe in ein System haben fast immer (nicht intendierte) Auswirkungen auf andere.

Das Great Barrier Reef ist ja nicht nur selbst ein Ökosystem, sondern Element des Ökosystems Erde mit ganz spezifischen Funktionen und Risiken: Erderwärmung, Verschmutzung oder Überfischung führen zu Korallensterben. Dies hat auch wiederum Auswirkungen auf uns Menschen, denn Korallen sind natürlicher Küstenschutz und CO2-Speicher. Für solche sensiblen Systeme gilt, dass die Expert*innen oft nicht einmal so genau wissen, was wir optimieren sollen. Und wenn wir versuchen, etwas zu optimieren, müssen wir mit den nicht intendierten möglichen Folgen umgehen.

Was aber tun wir, wenn wir ein System nicht kontrollieren können und nicht genau wissen, wo und wie wir es irritieren oder intervenieren können? Meadows nutzt dafür die hübsche Metapher des Tanzes:

“We can’t control systems. But we can dance with them!”

Kurz vor ihrem Tod im Jahr 2001 hatte sie an einem Manuskript gearbeitet, in dem sie einzelne Werkzeuge für die Veränderung von System vorstellen wollte. Auszüge daraus wurden 2001 unter dem Titel „Dancing with Systems“ veröffentlicht.

Systeme, so erklärt sie, sind nicht steuerbar. Aber sie können gestaltet werden. Wir können einem System nicht unseren Willen aufzwingen. Wir können aber hören, was das System uns sagt. Wir können es unvoreingenommen beobachten, darauf achten, wie es sein eigenes Verhalten erzeugt, welche inneren und äußeren Einflüsse Reaktionen hervorrufen und welche nicht.

Wir können entdecken, wie seine Eigenschaften und unsere Vorstellungen kooperieren können, um gemeinsam etwas Besseres hervorzubringen. Dafür müssen wir aber das ganze System im Blick haben. Wir müssen uns bewusst sein, dass manche Veränderungen zum Wohle des Ganzen manchmal den Interessen eines Teils zuwiderlaufen. Wichtig ist auch der Zeithorizont: Manche Interventionen haben unmittelbare Auswirkungen, andere entfalten hingegen erst in Jahrzehnten Wirkung.

Um ein System zu verstehen, hilft uns kein eindimensionaler Blick aus einer fachlichen Perspektive. Um die Gründe für ungleiche Zugangschancen im Bildungssystem zu verstehen und Veränderung anzustoßen, sind nicht nur die Bildungswissenschaften notwendig. Es braucht zudem Kompetenzen aus einer Vielzahl anderer Disziplinen. Dieses disziplinäre Wissen muss in interdisziplinären Dialog gebracht werden.

Wollen wir ein System verändern, müssen wir uns zudem von Gewissheiten verabschieden: “Für diejenigen, die ihre Identität auf die Rolle des allwissenden Eroberers setzen, ist die Unsicherheit, die das Systemdenken aufwirft, schwer zu ertragen. Wenn Sie nicht verstehen, vorhersagen und kontrollieren können, was können Sie tun?” Aber lassen Sie sich nicht beirren, sondern, in den Worten von Meadows: Feiern Sie diese Komplexität! Systeme sind zwar nichtlinear und dynamisch. Und dennoch können wir sie verändern!

Der Text ist im April 2022 im Magazin Thema V erschienen.

Quellen und Lesetipps

Meadows, Donella H. (1999). Leverage Points: Places to Intervene in a System. https://donellameadows.org/archives/leverage-points-places-to-intervene-in-a-system/

Meadows, Donella H. (2008). Thinking in Systems: A Primer. Edited by Diana Wright. Earthscan: Sterling.

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