August 24, 2022

Reallabore der Vierländerregion

Jens Poggenpohl
Redaktion und Kommunikation
Die Digitalisierung des Mittelstands, Technologien für ein selbstbestimmtes Wohnen und Leben, Konzepte für die Nahtstellen der Bildung: Fünf Jahre lang hat die Internationale Bodensee-Hochschule in den „IBH-Labs“ Forschende, Unternehmen und Zivilgesellschaft eng verzahnt, um regionale Lösungen für diese Herausforderungen zu finden. Im nächsten Jahr gehen die Innovationsnetzwerke mit neuen Themen in die zweite Runde.

Was haben ein Landwirt aus dem Rheintal und ein Waschmaschinenhersteller aus Oberschwaben gemeinsam? Auf den ersten Blick wenig. Und doch sind sie beide auf ihre Weise von der Digitalisierung getroffen, und beide sind von dem Wunsch angetrieben, ihre Marktführerschaft auch unter gänzlich veränderten Vorzeichen zu wahren. Verdunova und Winterhalter heißen die beiden Unternehmen, und beide gehörten zu den rund 40 kleinen und mittelständischen Unternehmender der Vierländerregion, die in den vergangenen Jahren Teil des Innovationsnetzwerks KMUdigital waren. Die Fragestellung des Netzwerks lautete: Wie viel Digitalisierung muss und wie viel passt in den Mittelstand?

KMUdigital war eines von drei „Labs“, das die Internationale Bodensee-Hochschule (IBH) in den vergangenen fünf Jahren gefördert hat. In diesen Real-Laboratorien sollten im Zusammenspiel zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft technologische und soziale Innovationen entstehen, die einen spürbaren Einfluss auf die Region haben können. Dazu arbeiteten 16 Hochschulen aus den vier Ländern des IBH-Verbunds — Deutschland, Liechtenstein, Österreich und die Schweiz — gemeinsam mit 114 Praxispartner*innen. Das Fazit fällt erfreulich aus: Als „Leuchtturmprojekt“ lobt etwa Baden-Württembergs Kultusministerin Theresia Bauer die „enge und grenzüberschreitende“ Zusammenarbeit.
Überlebensfrage für die Hidden Champions

Die wichtigste Erkenntnis des KMUdigital-Labs liegt für dessen Leiter Oliver Haase, Informatikprofessor an der HTWG Konstanz, darin, dass die eigene Fragestellung inzwischen überholt sei: „Die Frage nach dem Muss stellt sich nicht mehr. KMU müssen maximal viel digitalisieren — das ist zu einer Überlebensfrage geworden.” Dies gelte nicht zuletzt für die traditionsreichen Hidden Champions der Region, die über unbestrittene Exzellenz in der stetigen Optimierung ihrer Produkte verfügen, sich aber zuweilen schwer mit der Etablierung neuer, datengetriebenen Anwendungen oder auch ganz neuer Geschäftsmodelle täten. „Hier sind wir noch nicht Weltspitze“, mahnt Haase. Winterhalter, einer der Weltmarktführer beim gewerblichen Spülen, ist ein Mutmacher. Bereits 2016 hat man als Erster im Markt „Pay per Use“-Angebot auf den Markt gebracht, das sich jetzt auszuzahlen scheint.

Auch auf die Landwirtschaft der Region kommt die Digitalisierungsfrage schneller als geglaubt zu, schließlich wird sie in ihrer kleinteiligen Struktur die nur mit Hilfe einer der intelligenten Steuerung ihrer Produktionsprozesse wettbewerbsfähig bleiben können. Auf einem Broccolifeld von Beni Dürrs Betrieb hat ein Forscher*innen-Team dazu eine Reihe von Prototypen getestet: ein intelligentes Erntemesser, mit dem man anhand der Schnittführung erkennen kann, ob gerade ein guter oder schlechter Broccoli geschnitten wurde, oder ein Zähler mit Lichtschranke, der die Stückzahl misst; oder ein Hacksystem, das über ein Kamerasystem Unkraut erfasst. 30 Prozent mehr Gewinn haben die Vertragslandwirte von Verdunova damit erzielt. Ein Best Practice-Beispiel für viele Gemüse- und Obstbauern in der Vierländerregion und darüber hinaus.

Doch den einen Fahrplan, das allgemeingültige Standardrezept für ein erfolgreiche Digitalisierung gibt es nicht — auch dies ist ein Ergebnis der Arbeit im Lab. Vielmehr komme es auf die individuelle unternehmerische Entscheidung und häufig auch das nötige Quäntchen Risikobereitschaft an. Klarer ist der Forderungskatalog für die digitale Agenda Bodensee, den Unternehmen und Forschende gemeinsam aufgestellt haben: Er umfasst unter anderem den Datenschutz und die Cybersicherheit, den Roll-Out des 5G-Netzes und die digitalen Bildung.

Vom Hörsaal zum Pitch

Apropos Bildung: Um die Überwindung von Nahtstellen und Bruchstellen des Lernens ging es im Lab Seamless-Learning. Für die Innovationsführer der Region sind exzellente Arbeitskräfte von existenzieller Bedeutung, die duale und universitäre Ausbildung bewegt sich im internationalen Vergleich fraglos schon auch hohen Niveau. Doch auch hier schlummert im Miteinander von Wissenschaft und Praxis noch viel Potenzial — wie das Lab-Projekt „Agiles Projektmanagement“ gezeigt hat.

Das Stichwort „agil“ ist in aller Munde, die universitäre Ausbildung indes bereitete bislang auf die interdisziplinäre Teamarbeit und ständige Kommunikation mit Kunden noch nicht ausreichend vor. Ein im Projekt von Forscher*innen der HTWG Konstanz weiterentwickeltes Modul für Masterstudierende der Informatik fasst zwei Seminare zusammen und verlegt sie zum Großteil zu Softwareunternehmen in der Umgebung, wo Studierende in Teams um real existierende Kundenprojekte pitchen. „Der Nerd, der allein im Keller vor seinem Bildschirm hockt, passt eher nicht in ein agiles Team“, fasst Stephan Strittmatter, Talentscout beim Softwarehaus Sybit aus Radolfzell das veränderte Jobprofil zusammen. Er nutzt die Kooperation erklärtermaßen natürlich auch, um Talente an sein Unternehmen zu binden.

Für viele Studierende stellt aber nicht erst der Übergang in die Arbeitswelt, sondern schon die akademische Abschlussarbeit eine Hürde dar. Ein an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften entwickeltes Programm hilft nicht nur dabei, die Thesis zu strukturieren, sondern gibt auch Hilfestellung bei disziplinspezifischen Formulierungen — eine echte Erleichterung für Studierende wie Dozierende, die pro Jahr etwa 1.500 Mal genutzt wird.

Was bedürftigen Menschen wirklich nützt

Wie technologische Innovationen ein trotz Alter und Einschränkungen selbstbestimmtes Leben unterstützen können, war das Thema des Living Lab AAL. Zwar haben inzwischen viele Anbieter angesichts einer massiv alternden Bevölkerung das Marktpotenzial für Lösungen rund um das Ambient Assisted Living (AAL) erkannt, darunter auch die großen amerikanischen Technologie-Plattformen. Doch längst nicht alles, was angeboten wird, ist auch sinnvoll, angemessen und zukunftsfähig. Und so verstanden die IBH-Forscher*innen ihre Aufgabe hier nicht zuletzt in der konkreten Beratung von Bauvorhaben in der Region. 257 Wohnungen in allen vier Ländern der Region sind auf diesem Weg mit Bewegungsmeldern und Lichtschranken, mit Apps für die Lichtsteuerung oder Sensoren, die den Co2-Gehalt messen, auf Herz und Nieren geprüft worden.

Knapp 900 Menschen haben davon direkt in ihrem Alltag profitiert, hinzu kommen die Besucher*innen der Technologie-Schauräume, die unter anderem in Kempten und Tuttlingen entstanden sind. Für so viel Praxiswirkung wurde das Lab 2020 in Österreich zu einem der 30 erfolgreichsten von über 2.000 Interreg-Projekten gewählt. „Nun gilt es, Geschäftsmodelle zu entwickeln, insbesondere für die sozialen Millieus, in denen das Geld nicht locker sitzt“, fordert Guido Kempter, Leiter des Forschungszentrums „Nutzerzentrierte Technologien“ an der FH Vorarlberg und Leiter des Labs.

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