August 24, 2022

Durchblick beim Lernen

Jens Poggenpohl
Redaktion und Kommunikation
Von der Schule ins Studium, von der Hochschule in Job, von der Weiterbildung in den Arbeitsalltag: Um Bildungsprozesse erfolgreich zu gestalten, müssen gerade die Übergänge und Nahtstellen in den Blick genommen werden — erst recht im Zeitalter des lebenslangen Lernens. Auch dank der konzertierten Aktion im Rahmen des IBH-Labs Seamless Learning nimmt die Vierländerregion bei diesem Thema eine Vorreiterrolle ein.

Eigentlich arbeitet Stefan Strittmatter ja als Talent Scout beim Softwarehaus Sybit, im vergangenen Winter jedoch schlüpfte er im Rahmen von Zeit zu Zeit in die Rolle des „Störenfrieds“: Er äusserte manch wundersame Idee zu einem Projekt, wollte es mal so und kurz darauf wieder ganz anders und hielt mit seiner Meinung über die Arbeit seiner Dienstleister nicht hinterm Berg. Kurzum: Strittmatter spielte einen Kunden — seine Dienstleister waren Informatikstudierende der HTWG Konstanz. Und das gemeinsame Projekt war zwar ein Hochschulseminar, hatte aber doch verdammt viel mit dem realen Leben zu tun.

„Agiles Projektmanagement“ ist der Name dieses Projekts und beschreibt zugleich eine Methode, das für Informatiker*innen, aber auch Ingenieur*innen zunehmend selbstverständlich geworden ist, und auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen immer mehr Einzug hält. Damit verbunden ist die exakte Umkehr der Maxime, die Stefan Strittmatter als junger Programmierer noch selbst zu hören bekam. „Du hast Dich nicht um den Kunden zu kümmern!“

Eine Software agil zu entwickeln, heisst demgegenüber, in einem Team mit verschiedenen Rollen, in kurzen Zeiträumen zu denken und sehr regelmässig den Kontakt zum Kunden zu suchen. „Der Nerd, der allein im Keller vorm Bildschirm hockt, passt eher nicht in ein agiles Team“, so Strittmatter über das Anforderungsprofil heutiger Informatiker*innen „Sie müssen wesentlich teamorientierter, kommunikativer sein als noch vor einigen Jahren.“

Im Unternehmen statt nur im Seminar

Zwar verfügt Sybit, das in Radolfzell und weiteren Standorten rund 280 Mitarbeitende beschäftigt, über ein Onboarding-Programm, zudem seit einiger Zeit sogar spezifische Kommunikationstrainings gehören. Noch besser indes wäre es, wenn alle Neuen bereits über dieses Fähigkeiten verfügen würden. Von daher brauchten Rainer Müller und Ralf Schimkat, Informatik-Professoren der HTWG Konstanz, nicht viel Überredungskunst, um Praxispartner für ihr Vorhaben zu finden.

Dazu legten sie zwei ansonsten getrennte Kurse für Masterstudierende zu einem Verbundmodul zusammen, das noch dazu nicht nur im Hörsaal, sondern auch vor Ort bei den Praxispartnern stattfand. Hier traten die Studierenden in Teams gegeneinander zum Pitch um ein real existierendes Projekt an. „Es macht grossen Spaß, zu sehen, wie sich die Studierenden engagieren“, schwärmt Mike Groetzinger geschäftsführender Gesellschafter des Softwarelabors Siobra, und Patrick Kratzer, Informatikstudent an der HTWG, würde sich mehr solcher Veranstaltungen wünschen. „Die Interaktion mit einem Projektpartner ist etwas komplett anderes als ein Seminar.“

„In Europa wissenschaftlich führend“

Das Projekt war Teil des IBH Labs Seamless Learning, das in den vergangenen vier Jahren nach Wegen gesucht hat, um Brüche, Nahtstellen und sonstige Hindernisse in Bildungsprozessen zu überwinden. Der Übergang vom Studium in den Beruf ist einer dieser typischen Situationen, die berufliche Weiterbildung eine andere, bei der es oft an der Transferfähigkeit und Anwendbarkeit von Wissen mangelt.

„Die Unternehmen entdecken aber immer mehr, dass sie die Weiterbildung stärker in den Arbeitsprozess inkludieren müssen“, erklärt Bernadette Dilger, Professorin für Wirtschaftspädagogik an der Universität St.Gallen.

Nicht zuletzt aufgrund der Tradition der dualen Ausbildung sei das Verständnis dafür in der DACH-Region ohnehin stärker geprägt als etwa im angloamerikanischen Raum. Dank der konzertierten Aktion des IBH-Labs gelte dies nun auch für die Forschung. „In Europa sind wir wissenschaftlich führend“, so Dilger.

Gemeinsam mit Christian Rapp von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) hat Dilger das sogenannte Basisprojekt des Labs geleitet. Hier wurden die konzeptionellen Grundlagen gelegt und an die Projekte vermittelt, die wiederum vom Basisprojekt evaluiert wurden. Ein hoher Betreuungs- und Reflexionsaufwand, der sich aus Dilgers Sicht aber gelohnt habe, da es gelungen sei, „wesentliche Muster zu finden, die ein gutes Seamless Learning-Konzept auszeichnen“.

Daraus ist eine frei zugängliche, prozessorientierte Online-Plattform entstanden. Lehrende oder auch Personalentwickler*inne können hier gezielt nach Konzepten, die dazugehörigen Applikationen werden in einem Showroom präsentiert. Hinzu kommen unterstützende Materialien für die eigene Konzeption. Die wiederum können Anwender*inne für weitere Interessierte aufbereiten.

Wie man den „Tanz der Teilchen“ sichtbar macht

Andreas Witzig, Leiter des Institute of Computational Physics an der ZHAW, hat für diesen Projekten nach eigenem Bekunden „sehr von den Didaktikern profitiert“. Gemeinsam mit Kollegen der PH Vorarlberg hat der Spezialist für Computersimulationen sich mit einem ebenso alltäglichen wie relevanten Phänomens auseinandergesetzt: der Verbreitung von Wellen — sei es auf dem Wasser, von Mobilfunkstrahlen oder von Lärm.

Als Lernstoff indes ist die Wellenausbreitung „ein trockenes Thema, das viel Physik erfordert und auch Studierende im vierten Semester noch überfordern kann“, wie Witzig weiss. Mit E-Learning-Tools hat man eine Brücke zwischen der sichtbaren und der für das menschliche Auge unsichtbaren Welt gebaut und so etwa den „Tanz der Teilchen“ visualisiert, wenn Elektronen durch eine Mauer fliegen. Teile des Projekts sind an der ZHAW in das Curriculum eingeflossen, berichtet Witzig. „Wir liefern damit Bilder zu Formeln. Die bleiben wichtig, aber Lernen funktioniert spielerisch besser.“

Phrasen helfen bei der Thesis

Das Spiel und der Spass hören für viele Studierende im Studium freilich spätestens mit der Abschlussarbeit auf. Durch die mit dem Bologna-System verbundene Reduktion schriftlicher Arbeiten und damit mangelnder Übung fühlen sich die Studierenden noch stärker unter druck — und die Lehrenden sind ob mangelhafter Ergebnisse frustriert. An Fachhochschulen stellt sich dieses Problem in verschärfter Form, da hier traditionell weniger geschrieben wird ist und viele Dozierende Praktiker sind.

Um den Thesis-Prozess zu strukturieren und zu unterstützen, hatten Christian Rapp und Kolleg*innen aus der Computer- und Korpuslinguistik an der ZHAW schon vor dem IBH Lab ein Schreibprogramm entwickelt. In den vergangenen Jahren hat man den Thesis Writer weiterentwickelt. Mit seiner Hilfe lässt sich innerhalb von 30 Minuten ein Grobkonzept erstellen, beim Proposal hört die Unterstützung aber noch lange nicht auf. Ein zweisprachiges Phrasebook liefert für jeden Arbeitsabschnitt typische Formulierungen oder Wörter, die Kontext eines Fachbegriffs verwendet werden. Alle die jetzt eine Plagiatsgefahr wittern, kann Christian Rapp mit einem nüchternen Blick auf die Empirie beruhigen. „Bis zu 50 Prozent der Formulierungen in wissenschaftlichen Publikationen sind Konvention und werden sogar erwartet.“

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