August 7, 2022

Sensoren für morgen

Jens Poggenpohl
Redaktion und Kommunikation
Dem unterstützten Wohnen gehört die Zukunft; darin sind sich inzwischen alle Fachleute einig. Welche Technologien wirklich sinnvoll sind, hat das IBH-Living Lab AAL in über 250 Testwohnungen untersucht. Um den demografischen Wandel erfolgreich zu gestalten, müssen jetzt Geschäftsmodelle folgen.

Mitte Oktober 2020, ein Ortstermin auf einer Baustelle in Balzers. Guido Kempter studiert den Plan, blickt auf den Rohbau und seine Umgebung und sagt: „Hier würde ich einziehen!“ Kempters Lob bezieht sich aber weniger auf die Lage, auch wenn das Projekt „Schlossgarta“ hält, was der Name verspricht: Auf einem Felsen oberhalb thront die Burg Gutenberg, gegenüber grenzt das Pflege– und Altersheim der südlichsten Gemeinde des Fürstentums Liechtenstein mit seinem idyllischen kleinen Park an.

Worum es Guido Kempter geht, sind jedoch die inneren Werte des Baus. Und für die sind der Leiter des Forschungszentrums “Nutzerenzentrierte Technologien” an der FH Vorarlberg und das von ihm geführte IBH-Living Lab AAL nicht unwesentlich verantwortlich. Denn das „Schlossgarta“ ist eines von 14 Quartieren in der Vierländerregion, die das Lab in den vergangenen vier Jahren beraten hat.

Mit dem Erstbezug der zwölf Wohnungen sechs Monate später waren es genau 257 Haushalte, die im Rahmen des Labs mit Technologien für das Ambient Assisted Living (AAL) ausgestattet wurden: Mit Technologien, die Menschen dabei helfen sollen, trotz Alter, Behinderung oder Krankheit ein würdevolles autonomes Leben zu führen.

Mit Bewegungsmeldern und Lichtschranken zum Beispiel, mit Apps für die Lichtsteuerung oder Sensoren für den CO2-Gehalt, die automatisch Nachrichten aufs Smartphone schicken, wenn es mal wieder Zeit zum Lüften wäre. So hat das Lab den Alltag von rund 900 Menschen in der Region erleichtert und gleichzeitig ein ganzes Paket von Technologien auf die Praxistauglichkeit erprobt. Schliesslich ist nicht alles auch sinnvoll, was machbar wäre.

Alarm bei Nachtaktivität

So war es auch in Balzers. Bewusst hatte sich die 4‘600 Köpfe zählende Kommune entschieden, bei ihrem ersten Projekt im Bereich des betreuten Wohnens selbst als Bauherrin zu agieren. Auf der Suche nach einem kompetenten Partner stiessen die Vertreter der Kommune auf das Lab. Bei einem Besuch beim Garnmarkt in Götzis, wo ein Projekt für neue Wohnformen für ältere Menschen mit AAL-Technologien schon länger läuft, überzeugte man sich von deren Nutzen. „Von da an haben wir uns in sehr guten Händen gewusst“, erinnert sich Gemeindevorsteher Hansjörg Büchel. Fünf Mal traf man sich bis zum Baubeginn im Herbst 2019.

„Wir haben uns in Balzers auf die Benachrichtigungssysteme konzentriert“, erklärt Guido Kempter. Zunächst diskutierte man, welche Situationen die in allen zwölf Wohnungen verbauten Sensoren überhaupt identifizieren sollten, ehe man sich eine im Lab entwickelte Lösung auswählte. „So sind wir flexibel, was die Programmierung angeht“, sagt Kempter.

In der ersten Stufe erkennt das System etwa, wenn ein dementer Mensch nachtaktiv wird. Falls in den nächsten Jahren der Bedarf nach einer umfassenderen Steuerung, etwa von Möbeln, aufkommen sollte, sind die dafür nötigen Kabel und Sensoren schon verlegt.

Der Pfarrer und sein Skype

Dass die Entwicklung dahin gehen wird, steht für Heinz Schaffer, der Geschäftsführer der Lebenshilfe Balzers, fest: „Dem unterstützten Wohnen im Alter gehört die Zukunft.“ Um das zu wissen, genügt dem Betreiber des “Schlossgarta” allein schon der Blick ins ebenfalls von der Lebenshilfe geleitete Altenheim, wo die größte Sorge des hier lebenden 94-jährigen Pfarrers die Funktionsfähigkeit seiner Skype-App ist. Das Durchschnittsalter der Zielgruppe der “Schlossgarta“-Wohnungen liegt deutlich niedriger, bei 75+. „Die Einstellung zu Technologien hat sich in den vergangenen Jahren massiv verändert“, sagt Schaffer.

Schauräume gegen das Unwissen

Die Corona-Pandemie war ein zusätzlicher Katalysator. So hat das Lab 2020 in Zusammenarbeit mit der AWO Schwarzwald-Baar Geräte zur Erfassung von Vitalfunktionen des Blutkreislaufes und der Leistungsfähigkeit des Bewegungsapparats getestet, die von Gesundheitsdienstleistern überprüft werden können. „Selbst die größten Technikskeptiker*innen sind inzwischen vom Nutzen solcher Technologien überzeugt“, weiss Guido Kempter. Auch die Schauräume, die in Tuttlingen und — unabhängig vom Lab — an der Hochschule Kempten entstanden sind, stossen auf reges Interesse. Um die 800 Besucher*innen zählte etwa die Kemptener AAL-Wohnung in den zwei Jahren vor der Corona-Pandemie.

„Solche Informations- und Erfahrungsmöglichkeiten sind auch dringend notwendig, da selbst Pflegekräfte viele der bei uns installierten Technologien nicht kennen“, sagt Petra Friedrich, Professorin an der Fakultät für Elektrotechnik und Leiterin des AAL-Labors der Hochschule Kempten.

Zu beobachten ist überdies, dass der demografische Wandel als Problemstellung in den Programmen der Politik nicht mehr überall ganz oben auf der Agenda auftaucht, obwohl sich an der grundsätzlichen Problemstellung einer rapide alternden Bevölkerung nichts verändert hat. „Will man es positiv sehen, könnte sich hier ein erneuter Sektorenwechsel andeuten“, sagt Kempter. Die Politik habe den gesellschaftlichen Auftrag an die Wissenschaft übergeben, nun stünde der Übergang in die Praxis an.

Eine neue Zielgruppe für den Tourismus

Die wichtigste Frage ist dabei die nach der Finanzierung: sowohl auf staatlicher Seite, wo Kempter sich insbesondere eine Förderung für die sozialen Milieus wünscht, „wo das Geld nicht so locker sitzt“, als auch auf privatwirtschaftlicher Seite. Geschäftsmodelle sind jetzt gefragt, um die unbestrittenen Potenziale des AAL-Markts zu heben.

Beispiel Tourismus: Expert*innen wissen, dass insbesondere die Unterstützungsbedürftigen in der Zielgruppe der sogenannten Best Consumer zwischen 50 und 75 Jahren einen enormen Beratungsbedarf beim Thema ´Reisen haben. Die Hotellerie erschliesst diese Nische jedoch nur zögerlich — auch am Bodensee, obwohl gerade diese Klientel in der Lage wäre, in der Nebensaison Betten zu füllen oder die auch in der Post-Corona-Zeit selteneren Geschäftsreisenden zu ersetzen.

Doch viel mehr als Barrierefreiheit wird noch nicht angeboten. Schade, findet auch Hans-Peter Hutter von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. „Mit guten Angeboten für einen unterstützten Urlaub könnten sich Hotels profilieren“, ist Hutter überzeugt, ein Spezialist für Interaktionen zwischen Menschen und digitaler Information.

Berndeutsch für Alexa

Wie die nächsten Schritte aussehen könnten, hat er in einem Teilprojekt des IBH-Living Labs gemeinsam mit Kolleg*innen weiterer Hochschulen, der Claire und George Stiftung aus der Schweiz, Industriepartnern und acht Partnerhotels untersucht. Hier wurden zum Teil selbst entwickelte Tools erprobt, die idealerweise einen barrierefreien Urlaub von der Buchung bis zur Abreise ermöglichen sollen: eine Reiseapp etwa, die bei Problemen unterwegs den Kontakt zu einer kompetenten Hilfe herstellt; eine weitere App, die barrierefreie Angebote in der Umgebung anzeigt; oder einen Alexa-Sprachassistenten für Hotelinformationen. Der wurde an Hutters Institut entwickelt und im Feldtest auf Herz und Nieren geprüft.

Barbara und Thomas Kestenholz aus Rubigen in der Nähe von Bern zählen zu den Urlaubern, die den Alexa-Sprachassistenten getestet haben. Am Ende ihres Urlaubs im Ferienhotel Bodensee in Berlingen sind sie mit Hutter im Hotelrestaurant zur Produktkritik verabredet. Herr Kestenholz ist pflegbedürftig, eine solche Unterstützung könnte daher durchaus nützlich sein, findet seine Frau. Etwas spezifischer auf ihre individuellen Probleme sollte das System aber abgestimmt sein. Und dann ist da noch die Sprachfrage. „Dialekte beherrscht die Alexa nicht?“, fragt sie. „Nein“, antwortet Hans-Peter Hutter, Berndeutsch sei noch nicht im Repertoire. Aber auch das wird sich eines Tages noch ändern.

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