June 6, 2023

Mit der Praxis für die Praxis

Jens Poggenpohl
Redaktion und Kommunikation

Dass der gesellschaftliche Zusammenhalt schwinde, ist eine immer häufiger zu hörende Klage. Aber wie sähe eigentlich eine Gesellschaft des Zusammenhalts aus? Sie müsste Pluralität ertragen können, aber dennoch einen gemeinsamen Grund finden. Sie würde Jung und Alt verbinden, sie müsste krisenfest und anpassungsfähig, neudeutsch: resilient sein, und dabei das richtige Maß zwischen Erneuerung und Tradition finden.

Klingt utopisch angesichts von fragmentierten Lebenswelten? Laeticia Labaronne hat Menschengetroffen, die zumindest teilweise in diesem Utopia leben. In Konstanz. Der Konstanzer Fasnacht, genauer gesagt. Denn den Fasnachtsvereinen dort, sagt die Professorin für Kulturmanagement an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), gelinge es, in ihrer gemeinsamen Traditionspflege jenen Kitt zu erzeugen, der Gesellschaften zusammenhält. Was Labaronne in ihren Studien besonders beeindruckt hat, war das „intergenerationelle Moment“ der Fasnacht. „Diese vermeintlichen Laien schaffen etwas, was wir auch in der Hochkultur unter Slogans wie „Kultur für alle“ und mit Gamification-Ansätzen oder neuen Technologien versuchen – dabei aber jahrhundertealtes Wissen ignorieren. “Wie genau dieses Wir-Gefühl erzeugt wird und was andere gesellschaftliche Beteiligungsprozesse von den Protagonist*innen des lebendigen Kulturerbes lernen können, ist Gegenstand von „LeKuLab“, einem der vier neuen Projekte, die der Wissenschaftsverbund Vierländerregion im Programm Gesellschaftlicher Zusammenhalt fördert.

Lebendige Traditionen: Ein Vorbild für Dialog- und Streitkultur

Ihren besonderen Fokus legen die jüngst bewilligten Projekte, die im Sommer ihre Arbeit aufnehmen werden, auf die Förderung der Dialog- und Streitkultur in der Vierländerregion. Dafür stehen den internationalen Forscherteams über einen Zeitraum von zwei Jahren insgesamt mehr als 600.000 Euro zur Verfügung. Eines der Projekte widmet sich einem grenzübergreifenden Lehrangebot zur Professionalisierung der Arbeit am gesellschaftlichen Zusammenhalt, die drei anderen sind Forschungstransfer-Projekte, die auf vorhergehenden Verbundprojekten aufbauen und eine besonders starke Kooperation mit der Praxis avisieren.

So auch das „LekuLab“, das Teile der im Projekt „IMMOERBO“ erhobenen Daten zur Konstanzer Fasnacht sowie zu den Silvesterchlausen Urnäsch, einer uralten Tradition im Hinterland des Kantons Appenzell Ausserrhoden, in einem ersten Schrittvertieft analysieren wird. Beide Traditionen sind auf einen jährlichen Höhepunkt zugeschnitten, der in Form einer Aufführung stattfindet. In dieser Performativität vermutet Labaronne „einen Schlüssel“ für den Zusammenhalt. Ein weiteres Erfolgsgeheimnis sei vermutlich „die Langfristigkeit und das langjährige Wissen dieses Community Engagements“.


Partizipation mit unerwünschten Folgen

Ebenfalls mit solch grundsätzlichen Haltungsfragen befasst sich das Projekt „BePart“, das dort ansetzt, wo das Vorgängerprojekt „Resiliente Gemeinden“ endete. Während es dort in der Zusammenarbeit mit Kommunen aus der Vierländerregion um die Erarbeitung von Handreichungen für erfolgreiche Beteiligungsprozesse ging, nimmt man nun die psychosozialen Voraussetzungen und Folgen von Partizipation in den Blick. Denn die hat immer Konsequenzen – nur nicht immer erfreuliche. „Scheitern Beteiligungsprojekte, kann dies dazu führen, dass das Vertrauen in Verantwortliche erodiert, Menschenresignieren und sich schlimmstenfalls sogar von fundamentalen Teilhabeprozessen wie zum Beispiel Wahlen abwenden“, erklärt Fabian Rebitzer, Sozialwissenschaftler an der FH Vorarlberg. Umgekehrt bestärke die Erfahrung, sein unmittelbares Umfeld mitgestalten zu können, eine positive Grundhaltung zur Beteiligung.

Während es hier um politische Partizipationsspiralen geht, sucht das dritte Forschungstransfer-Projektdiesbezüglich den Lebensraum Schule auf. Dass Jugendliche im Kernbereich der Schule, dem Unterricht, Mitgestaltungsmöglichkeiten vermissen, war eine der zentralen Erkenntnisse des Projekts „Bildung und Partizipation“, an dem mehr als 3.000 Schüler*innen aus Baden-Württemberg, Vorarlberg und der Ostschweiz teilnahmen. Eine weitere Erkenntnis stellte sich im Nachgang ein. Denn die zahlreichen Einladungen, die die Forscher*innen erhielten – von Klassensprecher*innen-Treffen bis zu Jugendzentren – zeigten, dass es zwar sehr viele Initiativen für die Beteiligung von jungen Menschen gibt, die Stakeholder untereinander aber nur lose vernetzt sind.

Wenn Schüler*innen selber forschen

Hier setzt das Projekt „DemoS“ an, das die „Kultur der Beteiligung“ im Klassenzimmerweiter fördern will. Dies freilich ist voraussetzungsreich. So braucht es auf Seiten des Lehrpersonals neben methodischem Know-how und Zeit auch Vertrauen darin, dass die Abgabe von Kontrolle die Identifikation der Schüler*innen mit ihrem Lernort deutlich steigern kann  – und dass der „notwendige Dilettantismus der Demokratie“ vielleicht nicht immer fachlich perfekten, wohl aber langfristig fruchtbare Ergebnisse produziert. Im Hinblick auf die Schüler*innenschaft gilt es sich, einem Beteiligungsparadox zustellen. Denn die demokratischen Kompetenzen, die es idealerweise für Beteiligung braucht, müssen Schüler*innen eigentlich schon besitzen.

Diesen Spannungsfeldern will „DemoS“ mit einem ambitionierten Methodenmix begegnen. Erreicht von Barcamps und Round-Table-Gesprächen über eine zweitägige Zukunftswerkstatt in der Mitte der Projektlaufzeit bis hin zum aktiven Einbezug der Schüler*innen in Anlehnung an den Youth Participatory Action Research Ansatz, in der diese von der Idee bis zur Durchführung selbst Mitbestimmungsformate entwickeln. „Das ist zwar ein sehr aufwändiger Prozess, aus unserer Sicht aber im Bereich Partizipation zwingend notwendig“, erklärt Martina Ott, Bildungswissenschaftlerin an der PH Vorarlberg.

Insgesamt nehmen alle drei Forschungstransfer-Projekte die vom Wissenschaftsverbund avisierte Kollaboration mit der Praxis sehr ernst: sei es, dass wie im „LeKuLab“, die Praktiker*innen der lebendigen Traditionen selbst über die Fragestellung der Forschenden entscheiden, sei es, dass im Fall von „BePart“ Menschen mit Erfahrungen in Partizipationsprozessen als Expert*innen geschätzt werden, mit Akteur*innen in aktuell laufenden Partizipationsformaten zusammengebracht zu werden, um das Wissen und den Geist zu transportieren, den es für gelingende Beteiligung braucht – als Beitrag zur Enttäuschungsprävention, wenn man so will. Hinweise auf geplante wissenschaftlich Publikationen finden sich in den Anträgen eher beiläufig. Stattdessen dominiert das Bestreben nach „Impact, Impact, Impact“, wie Fabian Rebitzer es formuliert: mit der aktiven Netzwerkarbeit oder innovativen Ansätzen in der Öffentlichkeitsarbeit.

Hilfe für die Helfenden

Für „zusammen:denken“, das vierte neu bewilligte Grenzübergreifende-Lehre-Projekt, haben Erfahrungen aus der Praxis den unmittelbaren Anstoß gegeben. Seit 2015 haben sich an vielen Orten der Vierländerregion Initiativen gebildet, die geflüchtete Schüler*innen unterstützen wollen. Häufig sind diese vom Engagement von Studierenden getragen – so etwa das Mentoringprogramm „ACCOMPAGNA“, in dem neu zugewanderte Kinder mit besonderem Unterstützungsbedarf von inzwischen 70 Studierendender Pädagogischen Hochschule St. Gallen (PHSG) unterstützt werden.

Die Erfahrungen, die die Mentor*innen hierbei machen, sind zwar mehrheitlich positiv, zuweilen aber auch irritierend, weiß Julia Ha, Sozialpsychologin an der PHSG, die „ACCOMPAGNA“ begleitet. „Der Klassiker ist, dass unsere Studierenden Dankbarkeit und Motivation erwarten, aber auf Kinder treffen, die eine sehr schwere Biografie mitbringen und zum Teil nie zuvor zur Schule gegangen sind.“ Auch die naturgemäß fehlende Sprachkompetenz geflüchteter Kinder stellt eine Herausforderung dar, kann sie die Mentor*innen doch schnell zu Pauschalurteilen verleiten. „Die können ja nichts“, lautet ein Satz, den Julia Ha oft hört.

Bislang fehlten Raum und Zeit, um diese Erfahrungen gründlicher zu reflektieren. Umso willkommener kam aus Has Sicht der Call des Wissenschaftsverbunds. Gemeinsam mit Kolleg*innen der PHSG und der PH Vorarlberg will sie ein hybrides Lehrangebot entwickeln, das über fachlichen Input von Expert*innen und der Schaffung von gemeinsamen Experimentier- und Reflexionsräumen die Diversitätssensibilität erhöht. Ha ist überzeugt, dass das Konzept perspektivisch auch als Weiterbildungsangebot für amtierende Lehrkräfte zu nutzen sein könnte und über die Etablierung tragfähiger Strukturen einen Beitrag zur Resilienz der Vierländerregion leisten würde. Denn anders als politische Debatten es zuweilen suggerieren: Auch das Thema „Migration“ ist gekommen, um zu bleiben.

Das Werkbuch zum Programm Gesellschaftlicher Zusammenhalt können Sie hier herunterladen.

Bildnachweis: Angela Lamprecht

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