April 17, 2024

Imagineering: Gesellschaftliche Gestaltungsfreude statt technischem Solutionismus?

Jens Poggenpohl
Redaktion und Kommunikation
Ein Gespräch zwischen Jörg Metelmann und Jens Poggenpohl.

Jens Poggenpohl: Es herrscht nun wahrlich kein Mangel an Prognosen und Visionen für eine Zukunft im Zeichen der Nachhaltigkeit, und dass wir uns längst in einer Epoche des dramatischen Wandels befinden, das wird im Ernst auch niemand bezweifeln können. Und doch brauchen wir neue, weitere, andere Bilder, und wir brauchen eine Poetologie der Transformation. Jörg Metelmann, Titularprofessor für Kultur und Medienwissenschaft an der Universität St. Gallen, hat dazu einen Kunstbegriff in den deutschen Sprachraum eingeführt, den des imagineering.

Dieser Begriff ist sicher insofern erklärungsbedürftig, als dass er zwei Welten koppelt, die wir uns in aller Regel ja doch eher getrennt vorstellen: auf der einen Seite die der Images, der Imagination, also der Ästhetik, und auf der anderen Seite die Welt des ingenieursmäßigen Machens. Was ist für sie an dieser Kopplung vielversprechend?

Jörg Metelmann: Man kann den Begriff in zweierlei Hinsicht profilieren. Einerseits gesellschaftspolitisch und zum zweiten forschungsstrategisch. Das Gesellschaftspolitische war tatsächlich eine Art Hijacking dieses Begriffs, den sich Disney markenrechtlich hat schützen lassen, um zu sagen: "Was immer ich träumen kann, kann ich auch bauen." Besonders daran ist die Verbindung einerseits von Träumen und Machen, und der Begriff ist für mich speziell interessant, weil wir natürlich so was wie einen technological drift haben: Utopien sind technikgetrieben. Wir sind als Gesellschaft immer hinter der Bugwelle der Technik, und in den Begriff des Engineerings dieses Imaginative, das Vorstellerische, auch das Gestalten wieder miteinzubeziehen, das war der gesellschaftspolitische Ansatz bei der Wahl dieses Begriffs, und er hat eine gewisse Sexyness. Das muss man einfach sagen. Man hört ihm zu, und man denkt, da ist doch bestimmt irgendwas, und damit zu spielen, ist ja wiederum auch Teil einer marktförmigen Mediensphäre.

Jens Poggenpohl: Es gibt auch für die Bodensee-Region große Studien, die bis ins Jahr 2040 und auch weiter sehr konkret versuchen, eine Lebenswelt zu beschreiben. Was glauben sie, was imagineering für Bilder produzieren kann, die solche klassischen Zugänge nicht produzieren können?

Jörg Metelmann: Den Grundansatz von imagineering kann man vielleicht so formulieren, dass man jede technische Innovation als soziale Innovation denkt, dass wir also herauskommen aus dem Solutionismus: "Wenn wir irgendwann mal eine carbon storage-Technologie haben, dann wird alles gut." Die grundsätzliche Idee ist, zu sagen: "Wie viel von dem Rahmen, in dem diese Technik stattfindet, wollen wir gestalten?"

Und jetzt komme ich noch kurz zu der forschungsstrategischen Komponente: Wie kann man das übersetzen? Die Imagination ist ja sicherlich bildlich, aber sie betrifft natürlich auch Formen von Begriffen und im weiteren Sinne Begriffen und Praktiken. Und hier können wir uns als Forscher fragen: Wie können wir in einer klugen Verbindung von Elementen einerseits von Bildarbeit, von Praxisanalyse, von Modellen, die wir aus dem Transformationsdesign kennen, und Ideen, die wir aus der neuen Narrativik bekommen, Geschichten passfähig bekommen für die Rezipienten, die wir ansprechen wollen? Denn eins ist doch auch für uns alle klar – wir reden seit real einem halben Jahrhundert über Wandel. Der Club of Rome-Bericht ist über ein halbes Jahrhundert her. Warum tut sich nichts? Das heißt, die Frage ist einerseits, wie viel imaginativen Schmalz wir da einsetzen wollen. Die andere ist, wie viel Resilienz wir eigentlich zu bearbeiten haben, und Resilienz ist ja gerade auch im Management-Kontext immer ein sehr positiv gesehener Begriff. Er hat aber für uns auch eine negative Komponente.

Quasi aus dem Ärmel geschüttelte Zukünfte sind schwer zu haben. Was enorm hilft, und dafür gibt es gute Tools, ist das Erzählen aus der Zukunft. Die Studierenden kommen gleichsam in ein sprudelndes Parlieren, wenn man ihnen sagt, "du bist im Jahr 2060 Bundesratsvorsitzende oder in deiner Organisation etwas, und du erzählst eigentlich über die Wandlungsprozesse, die sich seit 2023 vollzogen haben, um in den Etappen 2040 und 2050 zu diesen und jenen Ergebnissen zu kommen". Man überspringt gleichsam die psychologische Schwelle, die uns immer vom Möglichkeitssinn abhält. Ausreden wie "Das haben wir doch schon immer so gemacht", "Es ist auch noch immer gut gegangen" kennen wir alle. Es ist ja mittlerweile auch gut erforscht, welche verschiedenen Modelle wir uns parat legen, um etwas nicht zu tun – und das Zurückblicken, eine Art von retro-imagineering, hilft dabei sehr.

Jens Poggenpohl: Sie machen ganz explizit eine Wertorientierung, sie legen sozusagen ihre normativen Hintergründe, also die wünschbare Zukunft, offen. Das heißt, es geht immer auch darum, natürlich nicht nur Impulse für eine Debatte zu geben, wie wir leben wollen, sondern auch, wie wir leben sollen. Braucht Wissenschaft oder braucht zumindest Wissenschaft, die sich des Imaginären bedient, mehr explizite Wertorientierung?

Jörg Metelmann: Ich glaube, es geht zunächst mal darum, das Potenzial zu entdecken, das sich überhaupt in so etwas wie Aushandlungsprozessen verbirgt oder das uns da zur Verfügung steht. Und ich glaube eben auch hier, dass wir zuerst mal reflexive und Nachdenkensräume und Diskussionsräume wiedereröffnen müssen. Denn auch das ist etwas, was ich in der Diskussion oder auch mit Studierenden erlebe. Wir sind eben sehr besetzt von bestimmten Bildern, wie Dinge sein sollen: Das sind Vorhersagen, das sind Szenarios. Also die Umstellung auch in der Prognostik, von so etwas wie scenario-making auf sowas wie Annahmenmanagement, wo viel stärker einfließen kann, warum wir eigentlich glauben, dass sich bestimmte Dinge bis dort und dorthin so entwickeln werden, also jenseits von bestimmten naturwissenschaftlichen Modellierungen, die wiederum aber auch zu besprechen sind vor diesem Hintergrund. Und darin liegt insofern ein bisschen, mit Habermas gesprochen, natürlich schon ein bestimmter Wert einer diskursiven Offenheit, einer Zugänglichkeit für verschiedene Argumente.

Natürlich kann man dann darüber diskutieren, wie viel Rechtsstaat wollen wir haben, wie viel Öko; "Zwangsveganisierung", hat Markus Söder bei dem Wahlkampf in den Bierzelten gesagt. Das sind natürlich Zuspitzungen, die auf etwas verweisen: Wie einschneidend wird der Wandel sein, wie groß wird der Verzicht sein? Und natürlich liegt darin ein Wert, dass ich mir überlege, wie viel Freiheit kann ich mir nehmen, wie viel Freiheit von anderen muss ich einschränken?

Also, Verzicht ist immer nicht nur, "Du kannst nur noch ein Schnitzel essen", sondern es steht dahinter ein Leben. Das hat etwas mit meiner Einstellung zur Gesellschaft, zu Liberalismus und so weiter zu tun. Ich glaube, diese Räume müssen auch wir als Forschende öffnen, weil uns dann, wenn wir zurückkommen auf so etwas wie Praxistheorien, auch die Möglichkeiten von Unbestimmtheiten und Offenheiten in der Wiederholung bestimmter Praktiken aufscheinen und wir dann mit Partnerinnen und Partnern vor Ort zusammenarbeiten können.

Jens Poggenpohl: Dieses gesamte Unterfangen hat ja einen stark kollektiven Charakter, also sie schreiben von dem Bezug auf Lebensweisen oder die Orientierung auf eine Stilgemeinschaft hin. Heißt das, ich überspitze mal, die Wissenschaft als Avantgarde des guten Lebens?

Jörg Metelmann: Natürlich. Wenn man kerosinfreie Wissenschaft betreiben möchte, wenn man sagt, es geht mir ausdrücklich darum, mit anderen Menschen ins Gespräch zu kommen, also raus quasi aus dem Silo-Denken einer bestimmten Selbstreproduktion von Wissen, gehen wir da auch als Denkplätze in der Gesellschaft voran, absolut.

Ich glaube, was wir auch versuchen können, ist, dass man Partnerschaften schaffen kann mit Akteurinnen und Akteuren. Das ist ja auch das, was hier unmittelbar im Vordergrund steht. Ich glaube, dass wir auf mehreren Ebenen, in einer begrifflichen Tätigkeit, in der Analyse von Praktiken mit dem Vorbildcharakter wirken können. Ob Uni Avantgarde sein kann, das weiß ich nicht genau. Ich glaube, wir sehen auch eine eine neue Entwicklung, die uns als Uni, als Forschende, also mich zumindest, sehr nachdenklich stimmt. Wir produzieren wahnsinnig viel Wissen in Journals, in den entsprechenden anderen Publika, und es fällt uns sehr schwer, das zu vermitteln.

Also hier ist auch eine Frage: Wie können wir als Uni durch Kooperationen und durch Anschaulichkeiten in Projekten, aber auch durch filmische Begleitung, durch Übersetzungen, in Podien und so weiter auch selbst dazu beitragen, dass wir diese Einsichten aus unseren communities auf die Straße kriegen? Also eine Avantgarde nicht in dem Sinne, dass wir das Rad neu erfinden, sondern dass wir uns zunächst mal bestimmten Problemen stellen, die wir selber in der Kommunikation unserer Ergebnisse haben. Und so ein Begriff wie imagineering oder andere Ansätze, das sind ja alles Versuche, mit unseren Semantiken herauszukommen und in eine breitere Anschlussfähigkeit zu gelangen. Ich glaube, das ist wiederum Teil der Selbsttransformation der Universität und der Universität als ein extrem wichtiger Denkplatz für eine zukünftige Gesellschaft.

Dieses Transkript wurde erstellt mit www.amberscript.com und würde gekürzt und bearbeitet durch Felix Girke, Teresa Hetzel und Jens Poggenpohl. Der Originalpodcast findet sich hier. Das Gespräch fand am 17.11.2023 im Rahmen eines Orientierungs- und Vernetzungsworkshops zur Ausschreibung "Möglichkeitsraum Bodensee" des Wissenschaftsverbunds statt.

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